Litterae Ignotae – Das Alphabet der Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen ist vielen ein Begriff – doch nur wenige wissen, dass sie ein eigenes Alphabet erfunden hat. Auch ich wusste das lange Zeit nicht. Obwohl mir Hildegard schon während meines Geschichtsstudiums begegnet ist, bin ich erst durch die Recherche zur Ausstellung Silent Letters auf ihre Schrift aufmerksam geworden – und war sofort fasziniert.

Warum hat sie dieses Alphabet geschaffen? Wozu wurde es verwendet? Viele dieser Fragen bleiben unbeantwortet – was das Ganze nur noch geheimnisvoller macht. Es wurde viel spekuliert. Ich persönlich schließe mich einer häufig vertretenen Forschungsmeinung an: Hildegard nutzte das Alphabet, um sich in der männerdominierten Welt des Mittelalters als Autorität zu behaupten.

Als Frau war es gefährlich, eine eigene Meinung öffentlich zu äußern, zu predigen oder sich einzumischen. Doch mit einem von Gott offenbarten Alphabet konnte sie sagen: Ich bin zwar eine Frau, mein Latein mag nicht so elegant sein wie das der männlichen Kirchengelehrten – aber schaut her: Ich habe meine eigene Schrift. Hildegard war eine politisch kluge Frau, die sich und ihre Botschaft eindrucksvoll zu inszenieren wusste. Ihre Litterae Ignotae waren ein Teil davon.

Gerade weil so vieles unklar bleibt – und Hildegard selbst oft als Projektionsfläche dient – finde ich es spannend, mit diesem Alphabet zu arbeiten, zu experimentieren, ihm neue Bedeutungen zu geben.

Ich habe eine moderne, gleichzugfähige Variante entwickelt, die sich besser schreiben und lesen lässt – und kombiniere sie mit dem mittelalterlichen Original.

Ich biete auch regelmäßig Workshops und Vorführungen zu Hildegards Alphabet an – mit einem kurzen Input zur historischen und kulturellen Einordnung und viel Raum zum Ausprobieren und Entziffern.

Hier findest du eine Auswahl dessen, was aus meinem Spiel mit Hildegards Alphabet entstanden ist.

Schriftkreise – Scivias

Im berühmten Rupertsberger Kodex finden sich zahlreiche Buchmalereien. Eine dieser Miniaturen stellt die Engelchöre dar, wie sie Hildegard von Bingen in ihrer Schrift Scivias (Wisse die Wege) beschreibt. Ausgehend von diesem beeindruckenden mittelalterlichen Werk sind drei Bilder entstanden, die den Kreis als zentrales Gestaltungselement haben.

Litterae Ignotae – modern interpretiert

Das mittelalterliche Original hat ohne Zweifel einen geheimnisvollen Reiz. Doch nachdem ich mich eine Zeit lang mit den Buchstaben beschäftigt hatte, wuchs der Wunsch, auch eine moderne Variante zu entwickeln: Ein einheitliches Schriftbild, mit dem sich gestalten und experimentieren lässt.

Diese Version lässt sich sowohl mit einer Gleichzugfeder schreiben als auch ganz einfach mit einem Bleistift – zum Beispiel für Notizen. Dabei war mir wichtig: Die Buchstaben sollten klar unterscheidbar sein. Denn im Original ähneln sich viele Zeichen stark und sind leicht zu verwechseln.

Meine Überarbeitung respektiert die historische Vorlage, verbessert jedoch die Lesbarkeit und Klarheit. Die neue Anordnung und Formgebung orientieren sich daran, was Hildegard von Bingen selbst hätte lesen können – und vielleicht auch mit Freude genutzt hätte.

Litterae Ignotae – Patterns

Collage „S“

Beitrag zur Ausstellung „Collage Notes“ , organisiert vom Paris Collage Collective | 14. bis 21. Dezember 2024 in Paris

Meine Collage zeigt meine moderne Version der Litterae Ignotae, die wie Graffiti an eine Hauswand gesprüht ist. Mittelalterliche Schriften können auch heute noch relevant sein und verdienen es, verwendet und neu interpretiert zu werden.

Dinge, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, sind oft am interessantesten. Für mich ist das auch das Wesen der Collage: das Nebeneinander von Elementen aus unterschiedlichen Zeiten, Stilen und Kontexten, die zu einem neuen, „vielschichtigen“ Ganzen verschmelzen.

Karitas Habundat

Karitas habundat in omnia – Die Liebe überflutet alles

Eines der schönsten Texte Hildegards. Umgesetzt in modernen lateinischen Buchstaben. Die Letterings sind 2025 entstanden bei einem großartigen Workshop von Liesbet Boudens, die mich sehr inspiriert.